Ist der Kunde bereit für Mehrwert? – Gedanken eines Zertifizierers

Der Fall ist ja eigentlich klar. Ich habe die Normen dabei, die Checkliste unter dem Arm und den Termin hinter der Tür, vor der ich stehe. Trotzdem taucht im Hinterkopf die Frage auf: «Wie wird es heute sein?» Reingehen, aufnehmen, Haken drunter und abschicken? Also der Rückspiegel? Oder wird heute Mehrwert geschaffen, der über den Haken hinausgeht? Werden wir zusammen durch die Windschutzscheibe schauen? Rückspiegel und Windschutzscheibe stammen aus einem Zitat von Chris Stansbury, CFO bei Arrow Electronics aus dem Forbes Insights mit dem Titel «Audit 2025 – The Future is now.», einer Publikation in Zusammenarbeit mit KPMG.

«Clients are no longer looking for just a rearview mirror view, but a view through the windshield on where we are going and how to navigate the landscape of risks, opportunities, changing regulations, competition and globalization.» Das heisst frei übersetzt in etwa, dass Kunden ihre Ausrichtung nicht mehr auf der Basis von Vergangenem entscheiden wollen, sondern sich nach vorne orientieren und dem ins Auge schauen möchten, was da kommt.

Mich hat dieses Zitat die letzten Wochen begleitet, so wie das Lied, das einen einfach nicht mehr loslässt. Darum habe ich begonnen, mir dazu in Bezug auf das Zertifizieren Gedanken zu machen. Welche Erkenntnisse kann ich aus den Worten von Stansbury ziehen? Und steckt darin vielleicht auch ein Mehrwert für meine Kunden.

Die knappe Antwort darauf ist: «Etliche» und «Ja». Denn beim genauen Hinschauen sehe ich in seinem Zitat mindestens die vier folgenden Aspekte:

Modernes Qualitätsmanagement

Beim Blick auf die Entwicklungsstufen des Qualitätsmanagements wird der Wechsel vom Blick in den Rückspiegel zum Blick durch die Windschutzscheibe schlagartig klar.

Nachdem zu Beginn dieses Jahrhunderts die gestiegene Nachfrage nach Gütern nach neuen Produktestrategien rief, führte die Theorie von Fredrick. W. Taylor und das Konzept von Henry Ford zur Arbeitsteilung in Teilaufgaben, zur Begrenzung der Verantwortung und zur Spezialisierung der Funktionen. Dies brachte eine fehlende Rückkoppelung von Fehlern zum Verursacher, die Trennung zwischen produzierenden und kontrollierenden Tätigkeiten und dazu, dass die Qualität vor allem durch Endkontrolle sichergestellt wird, eben quasi per Blick in den Rückspiegel.

Erst in den 60er und 70er Jahren begann man Fehler nicht erst dort, wo sie entdeckt werden zu beseitigen, sondern dort, wo sie entstehen. Unter anderem Philip B. Crosby ebnete mit seinen 4 Grundsätzen und den 14 Schritten zur Qualitätsverbesserung den Weg zu den sogenannten «Null-Fehler-Programmen», die jeden Einzelnen in die Verantwortung miteinbezieht oder anders ausgedrückt zum Blick durch die Windschutzscheibe.

Ein Audit ist keine Prüfung

Im September 2021 kam Monika Suter in ihrem Fachbericht «Ein Audit ist keine Prüfung» zum Schluss, dass ein Audit keine Prüfungssituation sei, bei dem ein Zertifikat herausschaue, obwohl es oft behauptet und manchmal so empfunden werde. Es sei im Gegenteil ein Vorgang, bei dem die auditierte Partei einen grossen Nutzen im Sinn eines echten Mehrwertes erwarten könne.

Vor allem bei kleineren Organisationen oder Einzelfirmen arbeiten die Entscheidungsträgerin oder der Entscheidungsträger meist in der Firma mit wenig Zeit, um an der Firma zu arbeiten. Auch wenn eine Zertifizierung immer geplant und begleitet ist, wie Suter erklärt, kann sie aus ständigem Zeitmangel durchaus als eine Prüfungssituation empfunden werden. Organisationen in dieser Situation haben den Blick bedeutend öfters eher im Rückspiegel und profitieren dadurch weniger vom Know-How des Zertifizierers. Klar und weit durch die besagte Windschutzscheibe zu schauen fällt einfacher, wenn die verantwortliche Person nicht zu sehr im Tagesgeschäft absorbiert ist.

Die weichen Kompetenzen werden immer wichtiger

Welche Kompetenzen werden denn heute von den Organisationen, die laut Stansbury eben vorausschauen wollen, an Auditoren und somit auch an uns Zertifizierer gestellt. Haben die sich in den letzten Jahr(zehnt)en ebenfalls verändert und wenn ja, wie haben sich die Schwerpunkt entwickelt.

KPMG hat diesem Thema 2018 Raum gegeben – wiederum im Forbes Insight. Am wichtigsten erachten sie die Kommunikationsfähigkeit gefolgt von der Emotionale Intelligenz. Kritisches Denken und Fachkenntnisse sowie professionelles Hinterfragen folgen auf den nächsten Plätzen.

Im Standartwerk für Auditoren, dem «Leitfaden für Qualitätsauditoren» (6. Auflage, 2019), ist für Gietl und Lobinger das oberste Prinzip die Wissensnutzung. Für sie heisst das, dass «das Audit nicht nur den direkten Auditauftrag …. ausführt, sondern gesellschaftlichen Anforderungen nachkommt.» Damit sprechen Sie zum Beispiel Arbeitsplatzerhaltung oder Wissenstransfer zwischen Organisationen an.

Die qualityaustria, der österreichische Dachverband von vier Qualitäts- und Zertifizierungs-Organisationen,  publizierte 2019 in einem Blogartikel ihre Sicht, welche Prinzipien ein Auditor mit sich bringt. «Integrität», die «sachliche Darstellung» und die «berufliche Sorgfalt» belegen da die ersten drei Plätze. Weiche Kompetenzen werden nicht speziell aufgeführt oder erläutert, während dem die Deutsche Gesellschaft für Qualität «Respekt» und «Wertschätzung» noch vor der «guten Vorbereitung» und «Fachkompetenz» aufführen.

Diese Quellen bestätigen also fast unisono die Aussage von Stansbury. Die Taylorsche Sicht auf die Dinge scheint definitiv abgelöst.

Fitnesstrends

Die letzten zwei Jahre haben die Fitnesstrends stark verändert. Dies zeigt der Bericht 2021 der jährlich durchgeführte weltweite Fitness-Trend-Umfrage des American College of Sports Medicine (ACSM), eine der weltweit grössten gemeinnützige Organisation für Sportmedizin und Arbeitsphysiologie.

Online-Trainings sind von Platz 26 im Jahr 2020 auf den Platz 1 im 2021 hochgeklettert. Gruppentrainings sind im Jahr 2021 von den vorderen Rängen auf den 17. Platz abgestürzt, während dem Outdoor-Aktivitäten auf den 4. Platz aufgestiegen sind. Klar wird sich diese Hitparade im Jahr 2022 wiederum verändern, aber wie in anderen Branchen auch, werden sich gewisse Verschiebungen wahrscheinlich nicht so schnell verabschieden.

Gerade bei den Methodenanbietern stelle ich einen gewissen Trend hin zu den Outdoor-Aktivitäten fest, vor allem bei den Methoden «Fitness» und «Personal Training».

Fazit

Als Zertifizierer für Qualitop lebe ich das Zitat von Chris Stansbury und stehe für den Blick durch die Windschutzscheibe. Ich lasse meinem Kunden aber auch die Wahl und begleite ihn auch, wenn er den Rückspiegel bevorzugt. Das ist für mich das Paradigma der emotionalen Intelligenz, des Respekts und der Wertschätzung.

Vertrauen aufbauen ist für mich schon immer die Grundlage jeder Zertifizierung gewesen. Kombiniert mit den erwähnten weichen Kompetenzen und der fachlichen Kompetenz kann ich bereits beim Planen der Zertifizierung heraushören oder -lesen, in welche Richtung der Kunde schaut. Entsprechend kann ich ihm Angebote machen. Oder es für den Moment auch sein lassen. Denn die nächste Zwischenaudit oder die Rezertifizierung folgt bestimmt. Und vielleicht gelingt der Richtungswechsel ja dann.

Quellenangaben:
«Audit 2025, The Future is now», Forbes Insight, 2017
– Geschichte des Qualitätsmanagements: Nexgen und Aukom
– «Ein Audit ist keine Prüfung.», Fachbericht von Monika Suter, 2021
Leitfaden für Qualitätsauditoren», Gerhard Gietl, Werner Lobinger, 2019
– «Five Skills Auditors Need To Succeed Today», Forbes Insight 2018
– «The impact of emotional intelligence on auditor judgment», International Journal of Auditing, 2017
– «Was macht einen guten Auditor aus», qualityaustria, 2017
– «7 Dinge die einen guten Auditor auszeichnen», Deutsche Gesellschaft für Qualität, 2018
– «Worldwide Survey of Fitness Trends for 2021”, American College of Sports Medicine (ACSM), 2022

Autor

Name: Urs Malke

Beruf: Zertifizierer, Dipl. HypnoseCoach HS, Dozent am Institut für ganzheitliche Methodik

Website: zertum.ch

Motto: «Am erfolgreichsten ist ein Zertifizierungsprozess, wenn man sich auf einer Vertrauensebene trifft»

Organisationen und Menschen in ihre Kraft zu bringen bedeutet immer, einen IST-Zustand mit einem SOLL abzugleichen und Lösungsansätze zu entwickeln, die ein allfälliges Delta überbrücken. Neben den rein technischen Gesichtspunkten sind dabei vor allem die Art der Kommunikation und das Einbeziehen der richtigen Parteien matchentscheidend. Diese Erfahrung hat Urs Malke während mehrerer Jahren bei Prozessberatungen und erfolgreichen Umsetzungen definierter Normen bei diversen Bundesämtern und in der Privatwirtschaft (Grossbanken, Industriebetriebe) in der Schweiz sowie internationalen Organisationen in Genf und Rom gemacht. Heute setzt er diese Erfahrung als Coach und Therapeut in Organisationen und mit Einzelpersonen wie auch als akkreditierter Zertifizierer für das Label Qualitop ein.